Blinder

Mendel Blinder war von Beruf Maler. Im ersten Weltkrieg wurde er zur Arbeit in Deutschland angeworben. Bis Kriegsende lebte er mit seiner Familie in Holzminden, ab 1919 in Braunschweig. Die Familie wohnte zunächst am Bohlweg 58. Mendel Blinder hatte hier ein Etagengeschäft auf Abzahlung, das nicht viel einbrachte. Etagengeschäfte sind Kleinhandelsgeschäfte ohne Laden. Ratenkäufe waren vor1945 bei Kaufhäusern und im Einzelhandel noch unüblich. Wer Waren auf Raten kaufen wollte bzw. musste, ging in ein so genanntes Etagengeschäft auf Abzahlung. Dort bestellte man die gewünschte Ware, der Händler kaufte sie, man holte sie zum festgesetzten Termin ab und zahlte die Ware plus Zinsen in Raten ab. Für einen derartigen Geschäftsverkehr brauchte man keinen Laden, man konnte den Verkauf in der Wohnung abwickeln. Dies war auch bei Blinders der Fall.

Nach der Machtergreifung Hitlers 1933 musste Mendel Blinder sein Geschäft aufgeben.

Mendel Blinder war ein tiefgläubiger Jude und wurde wegen seiner orthodoxen Barttracht auf der Straße verfolgt. Schließlich musste er untertauchen und lebte bis zu seinem Tod jahrelang versteckt. Diese Lebensumstände haben ihn gesundheitlich ruiniert. Er starb am 14. Januar1937 an einem Nierenleiden.

Sara Blinder lebte nach dem Tod ihres Mannes mit ihren beiden jüngeren Kindern Sonja und Schapsja noch bis Oktober 1938 in der Reichsstraße 15 e.

Am 27. Oktober 1938 wurde sie zusammen mit Sonja und Schapsja verhaftet und am 28. Oktober ins Strafgefängnis nach Wolfenbüttel gebracht. Wir konnten die Unterlagen des ehemaligen Strafgefängnisses in der heutigen Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel einsehen. Danach wurden die Blinders noch am gleichen Tag hinter die polnische Grenze nach Bentschen deportiert. Dort lebten sie unter menschenunwürdigen Umständen in einer ehemaligen Kavallerie-Kaserne. Weil Sara und ihre Kinder Verwandte in Polen hatten, konnten sie schon einige Zeit später zu Saras Mutter Lea Fingerhut nach Warschau ziehen. Aus einem Brief, den Sara ihrer Tochter Paula im Sommer 1939 nach Palästina schrieb, wissen wir, dass Sara versuchte, Warschau zu. verlassen. Wir zitieren: “ Du sollst nun alles machen, dass ihr mir die Papiere schickt, denn ich bin doch nur ein Mensch alleine……..Du weißt doch, wie es in Warschau ist. Paula, du sollst dir nicht einreden, dass wenn ich in Warschau bin, bin ich zu Hause, ich bin hier auch ganz fremd, meine Mutter ist schon eine alte Frau….“

Es gelang Sara nicht mehr, Warschau zu verlassen. Sie wurde zwangsweise ins Ghetto umgesiedelt. Letzte Nachricht erhielten die Verwandten in Palästina am 2. November 1941. Im Jahr 1999 füllte Saras Tochter Paula ein Gedenkblatt für ihre Mutter im Gedenkbuch von Yad Vashem aus. Aus dem Gedenkblatt konnten wir ersehen, dass das genaue Todesjahr und die Umstände ihres Todes den Angehörigen nicht bekannt sind. Saras Todesdatum wurde deshalb auf den 8. Mai 1945 festgesetzt.

Schiffra Blinder, die älteste Tochter der Familie Blinder, besuchte in Braunschweig eine Mittelschule, sie erlernte jedoch keinen Beruf. Weil Schiffras Vater nach 1933 sein Geschäft nicht mehr selbst führen konnte, musste sie die ausstehenden Raten kassieren.1983 schreibt Schiffra über diese Zeit: „…….Mancher schlug mir hämisch die Tür vor der Nase zu. Weshalb sollte man jetzt noch seine Schulden beim Juden bezahlen, wo sie die Nazis ganz offen verfolgten?……“ Weil Schiffra die Demütigungen, denen ihre Familie ausgesetzt war, nicht länger aushalten konnte, verließ sie Braunschweig gegen den Willen ihres Vaters im Juli 1934. In Berlin versuchte sie, Papiere für eine Auswanderung nach Palästina zu bekommen. Da sie jedoch keinen Beruf und kein Geld hatte, erlaubten die Briten die Einreise nicht. Deshalb fuhr sie nach Triest, um von dort aus nach Palästina einzuwandern. Dies gelang ihr durch die Heirat mit einem jungen Mann aus Amsterdam, von dem sie sich sehr schnell wieder scheiden ließ. In Palästina musste sie sich mit Gelegenheitsarbeiten durchschlagen. Später heiratete sie den Kaufmann Jacob Göbel. Schiffra ist im Jahre 1983 noch einmal in Braunschweig gewesen und hat das Grab ihres Vaters besucht.

Paula/Zipora Blinder

Die Lebensverhältnisse für die Familie Blinder waren ab 1933 so schwierig, dass Paula, die sich später Zipora nannte, 1935 in einen Rabbinerhaushalt nach Emden geschickt wurde. Hier wurde sie auf die Ausreise nach Palästina vorbereit.1936 gelangte sie mit einer Jugendgruppe dorthin. Bei einem Besuch von Herrn Reinhard Bein in Israel 1984 erzählt sie über diese Zeit: „…Die Siedlung wurde von Juden bewohnt, die um 1905 bzw.1920 aus Russland oder Polen eingewandert waren. Sie lebten in größter Armut. Das Dorf war in einem unbeschreiblichen Zustand. Keine Wohnungen, wie wir sie kannten, Wellblechhütten, kein Wasser. Alles ganz primitiv. Massen von Fliegen, Malaria. Eine andere Welt….“ 1940 heiratete sie den Apothekersohn Eli Schilgi aus Frankfurt am Main. Sie hatten sich auf der Überfahrt nach Palästina kennen gelernt. Erst jetzt hatte Zipora genügend Geld, um für ihre in Polen lebende Mutter und ihre Schwester Sonja ein Zertifikat für die Ausreise nach Palästina zu beantragen. Dies war jedoch zu spät, denn ab 1941 durfte kein Jude mehr aus den besetzten Gebieten ausreisen. Zipora war zusammen mit ihrem Ehemann 1983 und 1989 noch einmal in Braunschweig. 1989 setzte sie am Grabe ihres Vaters eine Gedenkplatte für die Mutter und die Schwester.

Sonja Blinder wurde mit ihrer Mutter und ihrem Bruder im Oktober 1938 nach Bentschen deportiert. Von dort kam sie zur Großmutter Lea Fingerhut nach Warschau. Aus einem Brief Sara Blinders an ihre Tochter Paula vom 12.Juli 1939 wissen wir, dass Sonja eine Aufenthaltsgenehmigung und ein Visum für eine Auswanderung nach England erlangt hatte. Aber es kam alles anders, denn am 1.September 1939 begann der erste Weltkrieg damit, dass die Deutschen in Polen einmarschierten. Damit war Sonjas Visum hinfällig. Erst 1940 konnte Sonjas Schwester Paula ein Zertifikat zur Ausreise nach Palästina beantragen. Das war aber zu spät, weil Hitler die „Endlösung der Judenfrage“ beschloss und alle Warschauer Juden ab Oktober 1940 im Warschauer Ghetto leben mussten. Wie wir aus einem Gedenkblatt aus der Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem wissen, hatte Sonja in der Zwischenzeit geheiratet. Von Verwandten aus England haben wir erfahren, dass Sonja das Visum noch bekommen hatte und zusammen mit ihrem Mann Benno Rosenberg nach Warschau fuhr, um sich von der Mutter zu verabschieden.

Sonjas Nichte Sharon Baum schreibt uns in einer e-mail:“ But when she went to say good bye to her mother, she got locked in the Warsaw ghetto, with her husband, and both were murdered by the Nazis.“ Die letzte Nachricht erhielten die Verwandten am 2.November 1941. Da man den genauen Todestag nicht kennt, wurde er auf den 8.Mai 1945 festgelegt.

Schapsja Blinder wurde als 15jähriger im Oktober 1938 verhaftet und mit seiner Mutter und Schwester in den polnischen Grenzort Bentschen deportiert. Nachdem er das Lager verlassen durfte, lebte er zunächst bei seiner Großmutter in Warschau. Noch im Jahr 1939 wurde Schapsja von Warschau aus nach England in Sicherheit gebracht. Englische Juden hatten einen Transport zur Rettung jüdischer Kinder organisiert. Schapsjas Tochter Sharon schreibt aus England über diese Rettungsaktion: „He was put on the kindertransport by his mother at aged 16 and never saw her again.“ In England änderte Schapsja seinen Namen in Sidney. Er lebte bei Adoptiveltern. Nach dem Krieg heiratete er. Seine Frau war wie er aus Deutschland geflüchtet. Sidney und Betty Blinder haben drei Töchter. Im Jahr 2005 waren diese drei Frauen in Braunschweig. Sie waren auch auf dem jüdischen Friedhof, wo sie das Grab ihres Großvaters Mendel Blinder besuchten.

Recherche: Carina Bennhardt, André Bleck, Alexander Brandes, Philip Duderstadt, Christopher Ehm, Rosanna Ihedioha, Robin Franke, Rebecca Jauns, Christina Kotschubin, Marius Martius, Matthias Meger, Tanja Chaperjahn, Nina Tuckermann, Dagmar Gebauhr(Lehrerin) Realschule John-F.-Kennedy-Platz