Wertheim, Hugo, Rosa, Anita und Margot

Familie Hugo, Rosa, Anita und Margot Wertheim

1875 als ältestes von fünf Kindern von Lina und Israel Wertheim in Wolfhagen/Kassel geboren, kam Hugo Wertheim 1883 mit seiner Familie in die Region Braunschweig. Er besuchte hier die Schule und übernahm nach dem Tod des Vaters Israel im Jahre 1901 selbstständig  die Geschäfte des Anfang der 1890er Jahre gegründeten Bankhauses I. Wertheim (zunächst mit seinem Bruder Moritz, der wenig später verstarb). Von 1905 an war die Wertheim-Bank im neu erbauten Haus am Bruchtorwall 1 in Braunschweig gegenüber dem „Staatsbahnhof“ ansässig. Hugo Wertheim wurde 1917 in das Kriegsgeschehen des 1. Weltkriegs eingezogen und kehrte im November des Jahres 1918 nach Haus zurück. Im Juni des darauffolgenden Jahres 1919 heiratete er die junge Rosa Friedmann aus Oschersleben/Bode. Sie wurde am 26.10.1897 als älteste Tochter von Bertha und Isidor Louis Friedmann in der Kleinstadt geboren und lebte seit der Hochzeit im Sommer 1919 in Braunschweig.

Die Familie Wertheim wohnte im ersten Stock des Hauses am Bruchtorwall 1, im Erdgeschoss befanden sich die Kassenräume des Bankhauses Wertheim (im zweiten Stock wohnte in dieser Zeit die Familie des  Arztes Walter Heinemann, mit deren Kindern die Wertheimkinder auch spielten). In dieser Umgebung kamen 1920 und 1922 die gemeinsamen Töchter von Hugo und Rosa, Anita und Margot, zur Welt. Die Wertheim-Familie führte ein liberales jüdisches Leben, besuchte regelmäßig die Gottesdienste der nahe gelegenen Gemeinde, die Mädchen gingen auf die Lessingschule bis zur vierten Klasse und lernten im Bürgerpark schwimmen.

Im Kontext des Börsencrashs 1929 in New York und der sich auch in Deutschland anschließenden Wirtschaftskrise veränderte sich die politische Stimmung im Braunschweiger Land: Bei den Landtagswahlen im Freistaat Braunschweig im September 1930 erhielt die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) 22,2 % der Stimmen. Sie bildete gemeinsam mit anderen rechts-konservativen Kräften, u. a. der DNVP, eine Koalition und stellte zunächst mit Minister Anton Franzen, seit dem 15. September 1931 mit Dietrich Klagges, das Innenministerium, während die DNVP mit Werner Küchenthal das Staatsministerium für Justiz übernahm. Aufmärsche, die auch die Familie Wertheim direkt vor ihrem Haus erlebten, Einschüchterung, Gewalt gegen Sachen und Menschen, Straßenschlachten mit der Polizei gehörten zunehmend zum Alltag in der Stadt. Als im Juni 1931 die Darmstädter und Nationalbank u. a. aufgrund geplatzter Kredite zusammenbrach und das Vertrauen in das gesamte deutsche Bankensystem erschüttert wurde, setzte eine Abhebewelle auf Bankkonten ein. Das Bankgeschäft Hugo Wertheims, bei dem es u. a. um den Handel und die Finanzierung landwirtschaftlicher Flächen ging, geriet im Zuge dieser Wirtschaftskrise ebenfalls in große finanzielle Schwierigkeiten und Liquiditätsnöte.

Hugo Wertheim hatte Anfang Oktober 1932 den Antrag auf ein Vergleichsverfahren zur Abwendung des Konkurses gestellt. Mit Datum des 6. Januars 1933 erhielt er Antwort vom Amtsgericht Braunschweig. Gezeichnet hatte es [Friedrich] Alpers (1901-1944), SS-Sturmbannführer und Braunschweigischer Landtagsabgeordneter der NSDAP, was bemerkenswert ist, weil dieser im Justizapparat offenbar keine Funktion innehatte. Alpers ist zudem für zahlreiche Verbrechen der Nationalsozialisten in Braunschweig mitverantwortlich, so auch den Warenhaussturm auf Karstadt und Frank am 11.3.1933. Das Vergleichsverfahren, was Hugo Wertheim mehr Möglichkeiten gegeben hätte, sich mit Gläubigern zu einigen, wurde abgelehnt, das Konkursverfahren eröffnet. Hugo Wertheim musste angesichts dessen davon ausgehen, dass er besonders auch als jüdischer Bankier keinerlei Perspektive mehr hatte. Die eingesehenen Akten deuten darauf hin, dass es diesen Zusammenhang gab.

Angesichts der aussichtlosen Situation, dem beruflichen und finanziellen Niedergang in einer Zeit der immensen Bedrängnis, in die er als jüdischer Bankier geraten war, nahm sich Hugo Wertheim am 10. Januar 1933 das Leben.

Die Familie blieb erschüttert zurück, der Hausstand im Bruchtorwall 1 wurde aufgelöst (in einer aggressiven politischen Stimmung). Rosa Wertheim und die beiden 13- und 11-jährigen Anita und Margot zogen Ende des Jahres 1933 von Braunschweig zunächst zu den (Groß-)Eltern Friedmann nach Oschersleben. Die zunehmenden Anfeindungen in der Kleinstadt machten es ihnen schwer und die Familie siedelte 1935 nach Magdeburg und ein Jahr später nach Berlin über. Das Adressbuch meldet sie in der Kantstraße in Berlin-Charlottenburg.

Der Prozess der systematischen Entrechtung ging gleichwohl weiter, die Wertheims erlebten die Pogrome im November 1938 in Berlin hautnah mit, sahen, wie ihre Schule brannte und ihr Onkel von den Nazis festgenommen und für einige Wochen in ein Konzentrationslager gebracht wurde. Für die Familie stand danach fest, dass sie einen Weg aus Deutschland herausfinden musste. Ein entfernter Verwandter in den USA gewährte schließlich ein Affidavit. Die inzwischen 18 und 16 Jahre alten Töchter Anita und Margot nahmen die langwierige Beantragung der erforderlichen Visa in die Hand. Weil der Schulbesuch nicht mehr möglich war, absolvierte Margot Wertheim während dieser Zeit eine Ausbildung zur „zahntechnischen Gehilfin“ bei einem jüdischen Arzt in Berlin, dem auf Grund der Verbote das Personal fehlte, Freunde und Familie verließen auf unterschiedlichen Wegen teilweise das Land. Mit „den größten Schwierigkeiten“  (Anita Wertheim) bekam die Familie schließlich ihr Visum für die USA. Erst nach Beginn des Krieges konnten im Herbst 1939 Rosa, Anita und Margot Wertheim über Genua nach New York emigrieren – sie erreichten die Stadt am 6. Dezember 1939.

Hugo Wertheim (1875 Wolfhagen/Bez. Kassel – 1933 Braunschweig).

Rosa Wertheim, geb. Friedmann (1897 Oschersleben/Bode-1980 USA).

Anita Wertheim, verheiratete Bloch (1920 in Braunschweig- 2014 USA).

Margot Wertheim, verheiratete Wolf (1922 Braunschweig-2020 USA)

Recherche: Dr. Anike Rössig, 2023.


(Margot und Rosa Wertheim vor dem Haus Bruchtorwall)

Quellen: Stadtarchiv Braunschweig, Niedersächsisches Landesarchiv Wolfenbüttel, National Archives Washington D.C., Familienerinnerungen Wolf und Di Gerlando